Wettbewerb
Die Kombination aus einem generell starken Jahrgang und einem aus dieser Konkurrenz dennoch glasklar herausstechendem Beitrag ist außerordentlich selten. Dass die Internationale Jury um Präsident James Schamus dem Mehrheitsvotum von Publikum (Standing Ovations) und Presse (Lobeshymnen) für Richard Linklaters Boyhood widersprochen hat, mag zunächst etwas enttäuschend wirken. An den Wettbewerb 2014 wird man sich dennoch nicht ob des Gold-Gewinners Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice) erinnern, sondern ob Linklaters wortwörtlichen Jahrzehntwerks und dessen einmaliger Entstehungsgeschichte. Bisher unerreicht auch der einheimische Anteil: Neben vier "echt" deutschen Aspiranten sind weitere fünf Vertreter der Hauptsektion hierzulande oder unter Bezuschussung hiesiger Fördergelder produziert worden. Der Erfolg gibt dem Trend recht, hat doch eine große Mehrheit dieser Beiträge durchaus überzeugen können. Mit dem Drehbuch von Anna und Dietrich Brüggemann für Kreuzweg hat man zudem den gelungensten Film der Runde verdientermaßen mit einem Bären bedacht.
Fest der Vielfalt
Aus der gewohnt heterogenen Zusammenstellung der neun weiteren Sektionen lassen sich Perlen des Autorenkinos wie die japanisch-amerikanische Kooperation Kumiko, the Treasure Hunter hervorheben, dem medienwissenschaftlich wie in seiner filmischen Kraft erinnerungswürdigsten Beitrag der gesamten Berlinale. Im „Forum“ und „Panorama“ konnte daneben die anhaltende Relevanz des Dokumentarfilms demonstriert werden, etwa in der wohltuend manipulativen Found-Footage-Montage Souvenir. Spartenübergreifend bemerkenswert auch die Fülle reflexiver Genrefilme, anschaulich beispielsweise in Fruit Chans fulminantem The Midnight After. Neben den gewohnt vielfältigen Kurzfilmprogrammen hat die Retrospektive zur Licht- und Schattenästhetik die Gelegenheit zur Relektüre früherer Meisterwerke geboten, ebenso die Rückschau auf das Werk Ken Loachs samt überfälligem Ehrenbär.
Die Waffen
Ob die auffallend hohe Gewaltrate nicht nur innerhalb der Wettbewerbsfilme eine adäquate Bestandsaufnahme der globalen Verfasstheit darstellt, darüber lässt sich trefflich streiten. Nicht nur in dieser Hinsicht ergibt die Jury-Preisvergabe jedoch ein klares Missverhältnis: Im Jahr nach dem allseits beschworenen Schritt zu einer geschlechtlichen Gleichbehandlung keine einzige der beteiligten Filmemacherinnen zu ehren, ist nicht nur als Signalwirkung denkbar ungünstig. Auch weil die Werke von Celina Murga (La Tercera Orilla) und Sudabeh Mortezai (Macondo) überzeugende Gegenentwürfe zur sonstigen Waffendominanz in Konfliktlösungsansätzen bieten, hätte wenigstens einer der beiden herausragenden Filme entsprechend ausgezeichnet werden sollen. Die Effektivität der auch rein gestalterisch bedachteren Ansätze kann selbst unabhängig von genderkonventionellen Erklärungsversuchen kaum geleugnet werden.
Im Zeichen des Nachwuchses
Neben den Beiträgen von Murga und Mortezai widmen sich auch Edward Berger mit Jack, Feo Aladag mit Zwischen Welten sowie Boyhood und Kreuzweg den Jüngsten unserer Gesellschaft – und damit den eigentlichen Verlierern der Wirtschaftskrise, wie Festival-Direktor Dieter Kosslick bei der Bären-Verleihung befunden hat. Eine derartige Konzentration auf das Schicksal von Kindern und Jugendlichen hat es auf einer Berlinale bisher noch nicht gegeben. Markant in diesem Jahr auch die damit einhergehende Analyse geschwisterlicher Verhältnisse – nicht alleine in Dominik Grafs einschlägigem Die geliebten Schwestern. Die Schieflage, dass selbst nicht oder kaum Erwachsene in teils alleiniger Verantwortung jüngere Schwestern oder Brüder zu umsorgen haben, findet sich in den Filmen von Berger, Aladag, Brüggemann, Murga und Mortezai. Im Zuge dessen ist in sämtlichen dieser Beiträge auch die notorische Abwesenheit, Schwäche oder Verwerflichkeit von Vaterfiguren zu beobachten.
Babylonische Tendenzen
Die gehäufte Fokussierung kultureller und im Speziellen kommunikativer Gegensätze ist ein weiterer interessanter Topos der 64. Berlinale. Weniger erfreulich dagegen das wiederholte sprachliche Verwirrspiel bei einigen Screenings. Die im Vorfeld als gewinnbringende Innovation angepriesene gleichzeitige Untertitelung aller Wettbewerbsfilme in Englisch und Deutsch hat sich tatsächlich als bedauernswerter Rückschritt erwiesen. Die zweifarbigen Schriftzeilen stellen eine nochmals verschärfte Ablenkung vom eigentlichen Film dar, die als Sonderbehandlung einer geringen Minderheit (nämlich des nicht des Englischen mächtigen Teils des Publikums) schlichtweg nicht zu rechtfertigen ist. Destruktiv und eines Festivals dieser Größe unwürdig auch die sprachliche Qualität einiger Übersetzungstexte – etwa bei Claudia Llosas Aloft oder dem chinesischen Anti-Western Wu Ren Qu. Eine derartige Fehlerhäufung, ja: zeitweilige Unverständlichkeit der Untertitel bedeutet eine zusätzliche, aber einfach vermeidbare Beeinträchtigung des Kinoerlebens.
Ein weiterhin handfestes Problem der Festivalorganisation bleibt das Ess- und Trinkverbot in einigen der Spielstätten. Insbesondere im Falle des Berlinale-Palastes, Ort der ersten beiden Pressevorführungen eines jeden Tages, trägt diese Politik paradoxe Züge. Ein Verzicht auf Nahrungsmittel und Flüssigkeit für bis zu sechs Stunden – bezieht man die dazwischenliegende Pressekonferenz mit ein – kann nicht ernsthaft im Sinne der Verantwortlichen sein. Überhaupt sind die Fragerunden zunehmend enger an die jeweiligen Vorführungen platziert. Für Journalisten besteht so oft nur die Wahl, entweder den Film bis zu dessen Ende zu sichten oder die Konferenz zu besuchen. Eine an den Realitäten der Festspielwoche orientierte Lösung wäre auch hier dringend wünschenswert.
Am Puls der Zeit
Gegenüber der Ausgeglichenheit des vergangenen Jahres hat die Berlinale 2014 wieder ein stärkeres Gefälle gezeigt. Den wenigen Tiefen stehen umso bedeutsamere Höhepunkte gegenüber, die – wie Linklaters Boyhood – deutlich über den Horizont des Festivals hinausweisen. Erfreulich ist zudem der wieder akuter spürbare gesellschaftspolitische Bezug der Filmauswahl, der sich in der vermehrten Bemühung um kulturelle Brücken und vor allem in einer Zuwendung der kindlichen Weltsicht geäußert hat. Ihren Platz unter den wichtigsten Filmfestspielen der Branche hat die Berlinale in ihrer 64. Ausgabe in jedem Fall festigen können.